ERzählt 3: entscheidung

Veröffentlicht am 03.05.2021

»Fuck. Fuck. Fuck. Fuck. Fuck. Fuck.«
“FUCK!”, brach aus ihm heraus.
Er war auf dem Weg nach Hause. Zum Glück waren die Straßen recht leer. Es gab nur eine ältere Frau mit ihrem Hund, die ihn beide verwundert anschauten.
Er schaute verlegen zur Seite.
Wieso musste er sie ausgerechnet im Supermarkt getroffen haben? Und so?
»Fuck. Fuck. Fuck. Fuck. Fuck. Fuck.«
Sein Schädel hörte nicht auf. Er konnte nichts dagegen tun. Er war gefangen in seinen Gedanken, der Moment spielte sich immer wieder ab. Immer wieder die Szene vor dem Regal, immer wieder seine dummen Worte und ihre sanfte Stimme. Es gab kein Entrinnen, es war die schlimmste Tortur.
Seine Umgebung verblasste und sein Körper begann, sich von selbst nach Hause zu bewegen. Er war völlig versunken im Loop seiner Scham. Als er bemerkte, dass er vor der Tür stand, wusste er nicht, ob er hinein gehen sollte. Er war so aufgekratzt, er wollte sich jetzt nicht hinsetzen und essen. Er hatte sowieso gar keinen Hunger mehr. Sein Blick wandte sich der prallen Plastiktüte zu, die unter dem Gewicht all ihrer Lasten sichtlich litt. Er konnte sie nicht mitnehmen und wohin sollte er überhaupt gehen?
Widerwillig schloss er die Tür auf und ging die Treppen hoch zu seiner Wohnung. Da stand er nun im Flur. Seine Gedanken wurden leiser, aber die Unruhe in seinem Körper blieb. Er konnte sich nicht entspannen, nicht nachdem, was passiert ist.
Er musste wieder daran denken, wie er mit ihr vor dem Cornflakes-Regal gesprochen hatte.
“Fuck man, du blöder Scheißspast!”
Seine offene Hand schnellte gegen seine Wange. Das laute Knallen und der brennende Schmerz der Backpfeife überdeckten für kurze Zeit das Ziehen und Stechen in seiner Brust. Seine Seele schrie. Und sein Magen knurrte. Er hatte also doch noch Hunger.
“Ok, dann esse ich halt was. Aber ich kann hier nicht bleiben, ich brauche space!”
Er nahm die Tüte und ging zur Küche. Auf dem Weg warf er einen Blick in den Spiegel.
“Scheiße, so bin ich rausgegangen?”
Er sah wie sein eigenes Gesicht ihn abwertend ansah. Wie es ihn musterte, als sei es enttäuscht und angewidert zugleich. Er setzte die Tüte ab und ging in sein Zimmer. Als er es betrat, wurde ihm zum ersten Mal klar, wie schlecht es ihm eigentlich ging. Er sah Berge von dreckiger Kleidung, ein vergammeltes Stück Pizza im fettigen Karton und mindestens fünf Teller mit Essensresten und offene Flaschen. Er sah wieder klar. Und es machte ihn noch unruhiger.
Er stieg hastig über den Müll zu seinem Kleiderschrank, denn er wollte keine Sekunde länger als nötig in seiner Wohnung verbringen.
Er streifte sich wahllos eins der wenigen sauberen T-Shirts über, die er fand und riss sich auch die Jogger von den Beinen, um zu einer anderen Hose zu wechseln. Noch bequem, aber nicht mehr dieses ranzige Ding, was gerade an ihm herunter hing.
Er hastete aus seinem Zimmer. Packte in die Einkaufstüte. Griff sich Brot, Hummus und Wasser und sprang förmlich aus der Wohnung raus. Die Tür riss er hinter sich zu und sprintete die Treppe herunter, als müsste er sich vor einer Gefahr in seiner Wohnung retten.
Draußen auf der Straße hielt er kurz inne, schloss die Augen und atmete tief ein. Die Luft war schon kälter geworden.
Sein Blick wandte sich zum kleinen Park in der Nähe. Er biss von seinem Brot ab und ging schnellen Schrittes darauf zu. Angekommen setzte er sich auf eine Bank und betrachtete die Enten im Teich. Sie betrachteten den Neuankömmling eine Zeit verstohlen und kamen dann näher, um den Zoll für seinen Platz an ihrem Ort zu fordern. Er gab ihnen ein Stückchen Brot. Sie stürzten sich gierig darauf und er erfreute sich an dem Schauspiel.
So saß er einen Moment, das Brot in den Hummus dippend und die Enten betrachtend, wie sie sich putzten und am Ufer entlang watschelten. Seine Gedanken wurden ruhiger und klarer, sein Herz verlangsamte seinen Schlag und seine Seele, gerührt von dem Anblick, ließ ab vom Schreien.
Er konnte endlich wieder Luft holen.

Er wusste, er musste etwas ändern.
Er wusste, es konnte so nicht weiter gehen.

Er musste alleine sein und weg von kaltem Beton und Stein, die ihn nie verstehen würden. Er musste zu Erde, die ihn bei jedem Schritt leicht umarmte und zu Bäumen, die ihm leise raschelnd Mut zusprachen.
Er musste nach Hause.