ERzählt 5: kinderzimmer

Veröffentlicht am 17.05.2021

Er nahm ihm sein Halsband ab und wischte mit einem Handtuch über seine dreckigen Pfoten. Mit dem Leckerli im Maul konnte er es kaum erwarten, endlich in die Wohnung zu kommen. Sein Schwanz verriet seine Aufregung.
Er öffnete die Wohnungstür ein bisschen und der Hund quetschte sich durch den kleinen Spalt sofort hindurch zu seinem Lieblingsplatz. Dort angekommen, legte er sich hin und begann seine Beute genüsslich zu zerknabbern.
Er folgte ihm in die Wohnung und wurde umgeben von einem wundervollem Duft.
“Sie hatten wohl doch nicht…”, dachte er sich.
Schnell folgte er den Gerüchen in die Küche, in der er einen Topf auf dem Herd mit einem Zettel auf dem Deckel vorfand.
“Lass es dir schmecken, wir fahren kurz in die Stadt”, stand dort geschrieben.
Er hob den Deckel an und begann breit zu grinsen. Sie hatten es doch getan. Sie hatten ihm sein Lieblingsessen gekocht. Er nahm sich einen Teller und häufte sich eine ordentliche Portion auf. Es war noch schön warm, die perfekte Temperatur.
So setzte er sich an den Esstisch, neben ihm der Hund liegend und seinen Kauknochen knabbernd. Beide sichtlich glücklich über das, was sie hatten.
Das Essen füllte ihn mit Wärme. Er hatte es schon seit Ewigkeiten nicht gegessen. Sie hatten es extra für ihn gekocht. Das ließ es noch besser schmecken.

Er ging zu seinem alten Zimmer. Seitdem er angekommen war, war er noch gar nicht drin gewesen. Er öffnete die Tür und wurde mit einem altvertrautem Anblick begrüßt. Es war wie ein Blick in die Zeit, bevor er ausgezogen war. Es hatte sich nichts geändert. Alles war an seinem alten Platz.
Das beruhigte ihn auf eine seltsame Art und Weise. Sein Zimmer: der Ort, der sich dem Zahn der Zeit entgegensetzte. Eine Oase, die sich nicht durch äußere Umstände verändern ließ.
Eine Weile stand er so im Raum und ließ alles auf sich wirken. Alles war in einen rotgoldenen Schein gehüllt von den letzten Momenten der Sonne auf dieser Erdhälfte.
Es kamen auch Erinnerungen an schlechte Tage, aber sie hatten nicht mehr das Gewicht von früher. Er war nicht mehr der gleiche, der diesem Zimmer damals den Rücken gekehrt hatte. Das Zimmer war ihm treu geblieben und das, obwohl er sich damals heimlich geschworen hatte, nie zurückzukehren. Dabei war es ihm hier gar nicht so schlecht ergangen. Er verstand die Wut von früher zwar, doch konnte er sie nun endlich unverzerrt sehen. Von weiterer Entfernung, die es ihm ermöglichte, zu verzeihen.

Er hörte, wie sich der Klang vom Auftreten der kralligen Pfoten von den Fliesen des Flurs zum Parkett seines Zimmers veränderte. Er schaute zur Tür. Dort stand der Hund und blickte ihn an. Wie eine Frage, ob er in diesen privaten Moment eindringen durfte. Er bückte sich als Antwort und der Hund kam leicht mit dem Schwanz wedelnd zu ihm gelaufen und ließ sich streicheln. Es war so schön mit einem Tier zusammen zu leben. Es verteilte Liebe ohne Bedingungen. Gut, vielleicht die Bedingung Essen zu bekommen und Gassi geführt zu werden. Aber sonst nichts. Es war ehrlich, aber nicht moralisch.

Nach einer Weile hörte er auf, den Hund zu kraulen und ging etwas im Zimmer umher. Der Hund, enttäuscht über das abrupte Ende, legte sich demonstrativ mitten in den Raum. Beim Abschreiten der einzelnen Möbel erkannte er viele Dinge wieder, nahm sie in die Hand und ließ die Erinnerung über seine Finger in sich hineinfließen. So viele Momente hatte er hier erlebt und er hatte alles ohne einen Gedanken wegwerfen wollen…

Er erblickte seine Musikanlage und musste schmunzeln. Er blickte hinaus und sah einen der schönsten Abendhimmel seit langem. Wolken flossen im roten Schein langsam durch die Höhen, im Hintergrund die Silhouetten entfernter Berge.
“Wow” entglitt seinem Mund.
Er machte die Musikanlage an und holte sein Handy aus der Hosentasche. Auf dem rissigen Touchscreen suchte er sich schnell einen passenden Lofi-Mix auf Youtube heraus und verband sein Handy. Die entspannenden Klänge strömten aus den Boxen und er legte sich aufs Bett, um von dort aus die letzten Minuten des Tages zu betrachten. Seine Augen wurden schwerer und schwerer und sein Atem wurde langsamer und langsamer. Bald atmete er ganz gleichmäßig und schlummerte tief im Zimmer vom Früher.
Der rote Himmel war nun zu einem Mosaik aus Sternen geworden und der Mond ließ sein fahles Licht durch das Fenster scheinen.
Er schlief so gut, wie lange nicht mehr.