ERzählt 6: tränen

Veröffentlicht am 24.05.2021

Er war nun schon seit zwei Wochen bei seinen Eltern. Die Spaziergänge mit dem Hund heilten ihn Stück für Stück und auch sein Lieblingsessen schmeckte ihm immer wieder.

Seine Mutter hatte ihn vorgestern gefragt, wie es denn [ihr] ginge.
Das war beim Mittagessen gewesen.
Sein Löffel blieb auf halbem Wege in der Luft hängen. Er hatte es ihnen noch nicht erzählt.
Er musste wieder an die Szene im Supermarkt denken. Daran wie schlimm es ihm ergangen war. Er wurde ein wenig traurig, doch tröstete er sich daran, dass die Erinnerung nicht mehr wie heiße Nadeln sein Herz von innen zu durchstechen versuchte.
Er setzte den Löffel ab und atmete einmal tief durch.
Seine Vater blickte vom Teller auf, er wusste nicht warum, aber er spürte die Anspannung.
“Wir haben uns getrennt.”
Beide schienen überrascht.
“Schon einige Zeit her. Ich hab’s euch noch nicht gesagt, weil ihr sie so gerne mochtet.”
“Oh” brachten sie zunächst nur zustande. “Wie schade. Wie geht es dir damit?”
“Ganz in Ordnung … denke ich.
Ich brauchte eine Weile Auszeit, deswegen bin ich zu euch gekommen”
Er lächelte verlegen. Sie hatten sie so gerne gemocht. Manchmal dachte er, mehr als ihn.
“Dafür sind wir doch da”, sagte sein Vater mit einem warmen Lächeln. Seine Mutter stand auf und schob dabei ihren Stuhl mit ihren Beinen zurück. Rasch ging sie um den Tisch herum und schloss ihn fest in ihre Arme. Erst war er etwas überwältigt, dann, langsam, lag er seine Arme auch um sie. Er spürte, dass seine Tränen sich sammelten und schluckte schwer. Sein Kloß im Hals fühlte sich wie ein Granitstein an. Er schluckte nochmals. Er wollte nicht vor seinen Eltern weinen. Aber die erste Träne ließ sich nicht aufhalten und kullerte stolz seine Wange herunter. Sein innerer Damm brach nun vollends und es folgten mehr und mehr, bis er es einfach zuließ und richtig am Heulen war.
Auch sein Vater eilte nun rasch zu seinem Sohn, um ihm die starken Arme um den Leib zu legen. So waren sie dort eine Weile: Er im Sitzen und Heulen, von beiden Seiten von seinen Eltern in einer Umarmung umschlossen.

Als er nun zurück dachte, musste er ein bisschen lachen.
“Wie peinlich”
Aber es hatte sich richtig gut angefühlt. Das konnte er nicht abstreiten. Als seien die Tränen nun endlich befreit worden aus dem Käfig seines Verdrängens. Dieser kraftvolle Ausbruch hatte ihn wie reingewaschen. Jetzt hier oben, auf dem Berg ins Tal seiner Heimat hinabblickend, erschien ihm alles so schön, so farbenfroh.
Natürlich war er nicht vollkommen heile. Jedoch merkte er, dass er nur jemanden gebraucht hatte, dem er sich anvertrauen konnte. Er hatte nur jemanden gesucht, vor dem er endlich weinen konnte. Vor sich selbst hatte er sich das nicht erlaubt.
Manchmal muss man wohl Wunden erneut aufreißen, sodass sie anschließend wieder richtig heilen können.
Von seinen Freunden hatte er sich in der Zeit seiner Selbstisolation so weit entfernt, dass er sich kaum traute, sich wieder bei ihnen zu melden. Er hatte in letzter Zeit eh das Gefühl, er brauche einen Neuanfang. Neue Leute, eine neue Umgebung. Die Zeit bei seinen Eltern war schön und auch die Stadt, in die er gezogen war, mochte er gut leiden, doch zog es ihn weiter in die Ferne.

Er entschloss sich noch eine weitere Woche im Haus seiner Eltern zu bleiben. In dieser Woche wollte er weiter Kraft sammeln und dann eine lang aufgeschobene Reise beginnen. Die Vorbereitungen sollten gleich morgen beginnen.

Mit neuem Tatendrang erfüllt und die Welt zu seinen Füßen, klopfte er sich auf die Oberschenkel und erhob sich.
“Auf gehts”, sagte er zu sich selbst und begann den Abstieg nach unten.
Auf dem Weg traf er ein paar Kühe, die ihn genüsslich mampfend anschauten und sich wunderten, ob dieser Junge, der gleiche war, der vorhin auch schon vorbeigekommen war.
Er musste beim Anblick der liebevoll dreinblickenden Visagen lachen und streichelte einer der weiß-schwarz-gescheckten Vierbeiner am Kopf. Es schien ihr zu gefallen. In seiner überschwänglichen Unbeschwertheit gab er ihr einen Abschiedskuss auf den Rücken ihrer Nüstern.
Er hatte noch ein paar steile Wege zu wandern und wollte seine Eltern nicht beunruhigen, wo er so lange blieb. Seit dem Gespräch hatte er nur spärlich mit ihnen gesprochen, weil es ihm unangenehm war, dass er so verletzlich vor ihnen gewesen war. Aber nun hatte er verstanden, dass er genau das brauchte, dass diese Verletzlichkeit ihm die Stärke geben würde, die er sich immer gewünscht hatte.
Federnden Schrittes und beschwingt bestritt er seinen Weg nach Hause.
Zur Abwechslung würde er seinen Eltern ihr Lieblingsessen kochen. Er hatte schon alles eingekauft.