ERzählt 7: reise

Veröffentlicht am 31.05.2021

Der Zug kündigte sein Ankommen mit lautem Quietschen der Bremsen an und kam langsam zum Stehen.
Ein letzter Abschiedsdrücker auf dem Gleis.
“Mach’s gut und komm mir heil nach Hause”, sagte seine Mutter besorgt.
“Ja, keine Sorge, mach ich”, sagte er bestimmt und mit einem Lächeln in der Stimme.
Sie lösten sich voneinander. Er drehte sich um, setzte seinen Rucksack auf und schulterte seine Duffelbag und machte sich auf zu seinem Wagon. Bevor er den ersten Schritt auf die Stufen, die in den Zug führten, machte, blickte er nochmal zurück und winkte seinen Eltern zum Abschied. Ein breites Grinsen auf seinem Gesicht.
Dann schließlich verschwand er im Kasten auf Rädern und man sah ihn noch von Fenster zu Fenster verschwinden und wieder auftauchen.
Kurze Zeit später gab es einen lauten Pfiff mit dem sich alle Türen schlossen. Die Maschinerie begann zu summen, wurde dabei lauter und schneller und machte sich auf den Weg in die Ferne.
Sie schauten dem weißen langen Geschoss noch nach, bis es von der Weite verschluckt wurde.

Er hatte seinen Platz gefunden und lud sein Gepäck ab. Er war mit Vorfreude erfüllt, dabei wusste er gar nicht richtig, was ihn erwarten würde. Diese Reise hatte er schon länger als Gedankenspiel gehabt: Immer wenn er sich durch seinen Job kämpfen musste, hatte es ihm die Kraft gegeben durchzuhalten, weil er die Alternative vor sich sah. Weil er sich sagen konnte: “Wenn alles vor die Hunde geht, mache ich halt diese geile Reise.” Den Mut, sie durchzuführen, hatte er bis vor kurzem nicht gehabt. Und als er dann mit ihr zusammengekommen war, war es keine Option mehr gewesen. Mit der Trennung hatte er diese Ausflucht seiner Tagträume schon fast vergessen, doch die Zeit mit sich allein, hatte sie ihm wieder näher gebracht.
Es gab nicht viel zu planen. Es war einfach ein Aufbrechen zu den Orten, die er schon immer sehen wollte. In seinem Gepäck das Nötigste und vielleicht ein bisschen mehr. Aber er war noch nie alleine gereist, daher galt das Motto “lieber zu viel als zu wenig”.

Er machte es sich gemütlich. Die Fahrt würde etwa 5 Stunden dauern. Damit er sich nicht langweilen würde, hatte er sich mit Büchern, Musik, Serien und allen möglichen Snacks eingedeckt. Als er sich die Kopfhörer in die Ohren drückte, wanderte sein Blick zum Fenster auf der linken Seite. Seine Aufmerksamkeit wurde von der Landschaft, die an ihm vorbeirauschte, in Gefangenschaft genommen. Er konnte seinen Blick nicht mehr von den vielen Feldern, die ihm wie goldene Auen erschienen, abwenden, sodass er vergaß, sich den zweiten Kopfhörer ins Ohr zu stecken. Er musste einen seltsamen Eindruck machen, dachte er sich im Nachhinein. Ein Kopfhörer schon im Ohr, der andere noch in seiner Hand mitten in der Luft und der Mund halb offen.

Plötzlich störten kleine Wassertropfen den klaren Blick nach draußen. Die Prophezeiung seiner Wetter-App hatte sich nun doch bewahrheitet. Der Himmel hatte sich bedrohlich verdunkelt und nun schien er seinen Zorn auf die Welt niederprasseln zu lassen. Die Regentropfen auf der Scheibe schafften es jedoch nicht, sich der Scheibe zu bemächtigen und wurden gnadenlos vom Fahrtwind in die entgegengesetzte Richtung verdrängt. Das Schauspiel, fast schon ein Kampf, vor seinen Augen, brachte ihn um seine Trance.
Er besann sich wieder dessen, was er eigentlich vorhatte und vollendete seine Handlung. Aus seiner Tasche kramte er seinen Laptop, holte auch noch seine Festplatte mit all den Serien heraus und bereitete alles auf dem kleinen ausklappbaren Tischchen des Sitzes vor ihm vor.
Nahm ihm diese ganze Technik etwas, da er so Dinge erlebte, die nicht real waren? Oder macht das Geschichten ausdenken und erleben, die nicht real sind, nicht gerade genau den Menschen aus?
Philosophische Fragen beiseite schiebend, rutschte er noch etwas im Sessel herum bis er eine halbwegs angenehme Position fand und startete seinen Bingewatching-Marathon.

Jedoch schlief er nach nicht einmal 15 Minuten ein. Denn die leise Geräuschkulisse des Regens, wie er auf den Zug einprasselte, sowie die ganze Aufregung, die er verspürt hatte und die nun langsam abfiel, hatten ihn schläfrig gemacht. So lag er doch sehr verkrümmt vor seinem Laptop, der vor seinen geschlossen Augen Bilder zeigte. Bilder aus Zeiten, die nie existiert hatten.

Er wachte ruckartig auf.
“Fuck! Wie spät ist es?!”
Ein Blick aufs Handydisplay ließ ihn erleichtert aufatmen.
“Perfekt”
Er war kurz vor seinem Zielhalt wieder aufgewacht.
“Auoohh”
Sein Rücken und Hals schmerzte, seine Hand wanderte zu den Stellen und rieb sie sanft. Er setzte sich auf und wischte sich einmal durchs Gesicht. Nach diesem unerwarteten Abstecher in die Traumwelt war er noch ein wenig verklatscht. Er klappte den Laptop zu und verstaute wieder alles in seinen Taschen.
Die mit Mühe zu verstehende Ansage des Schaffners kündigte den Halt an.

Dieses Mal konnte er die andere Seite des Geschehens beobachten. Wie Leute sich verabschiedeten, wie er es selbst getan hatte. Wie man sich umarmte und sein Gepäck griff.
Mit einem Ruck kam der Zug zum Stehen und die Türen öffneten sich zischend. Er wartete geduldig bis er aussteigen konnte.
Schließlich machte er die Schritte nach draußen und überquerte den kleinen Spalt zwischen Zug und Bahnsteig.
Der Regen hatte aufgehört, doch es roch noch angenehm nach seinem Besuch. Die Abendsonne hieß ihn mit einem verstohlenen Blenden in der ersten Stätte seines Abenteuers willkommen.