ERzählt 8: fremder abend

Veröffentlicht am 07.06.2021

Er schaute nach dem Ausgang. Die Schilder waren alle unverständlich beschriftet, doch die Symbole halfen ihm, die Treppe nach unten zu finden.
Seine Füße huschten die Stufen hinunter und nach ein paar Schritten befand er sich vor dem Eingang des Bahnhofs.
Es erwarteten ihn eine dicht befahrene Straße und allerlei Menschentrauben, die alle ihren eigenen Zielen nachgingen.
Aufregung ließ sein Herz schneller schlagen. Er war endlich da. Diese Szene hatte er sich so oft ausgemalt und jetzt war sie Realität geworden. Er konnte es immer noch nicht ganz fassen.

Nachdem er den Zebrastreifen überquert hatte, schloss er sich dem Marsch der verschiedenen Füße an. Er wollte die Stadt noch ein wenig im Abendlicht erkunden , bevor er sich zum Hostel aufmachte, was er sich online ausgeguckt hatte. Durch die Stadt schlendernd, nahm er all die neuen Wahrnehmungen in sich auf und verbrachte einige Zeit mit Betrachten, Beobachten und Staunen.

Als die Sonne schon fast untergangen war, fand er sich in einem kleinen Park wieder. Die Bänke wirkten alle etwas kaputt, doch war er trotzdem entzückt. Hier war alles etwas verwildert, die Blumen waren nicht beschränkt durch den Ordnungswahn der Gärtner. Man könnte sagen, der Park sei verwahrlost, doch für ihn war er natürlich. Und das mochte er. Er saß schon einige Zeit hier und genoss das Zirpen der Vögel und das Quaken der Enten an einem Fluss in der Nähe. Er drehte sich auf die Seite und sah den schwankenden Mohnblumen im leichten Wind zu. Ihre intensive Farbe erschien in den letzten Strahlen der Sonne beinahe blutrot.

“Mache mich besser auf den Weg”, sagte er nach einem Blick auf die Uhr zu sich selbst. Dann sah er drei Gestalten, die auf ihn zukamen. Er hatte ein mulmiges Gefühl im Bauch. Außer ihm war sonst niemand auf der Wiese und sie kamen geradewegs und zielsicher auf ihn zu. Er richtete sich auf, aber es blieb keine Zeit, nun unauffällig zu verschwinden, also versuchte er sich so normal wie möglich zu verhalten. Vielleicht wollten sie ja doch nicht zu ihm. Er stand langsam auf, so langsam wie er dachte, dass er es normalerweise tut. Aber gerade konnte er das überhaupt nicht mehr einschätzen. Ihm wurde die ganze Situation immer unangenehmer, dabei wusste er gar nicht, was passieren würde.

Würden sie ihn….
…ausrauben?
…verprügeln?
..einfach nur nett nach ’ner Kippe fragen?

Er hatte keine Lust, herauszufinden, welche der Möglichkeiten es werden würde, aber nun war es endgültig zu spät. Er hörte bereits die fremden Stiefel auf dem Gras knirschen und zu einem Halt kommen.
Er blickte von seiner Tasche auf und sah sich drei nicht gerade freundlich dreinblickenden Gesichtern konfrontiert.

Sein Gegenüber sagte etwas in einem schroffen Ton. Doch er konnte die Sprache nicht verstehen.
“Sorry, English?”, brachte er nur hervor.
“Your bag!” kam unmissverständlich als Antwort. Die Blicke der zwei anderen unterstützten die Forderung. Sie musterten ihn aufmerksam und genau.
Sein einziger Gedanke war “Fuck”. Und dann rannte er los. An ihnen vorbei, mit fullspeed zum Tor. Seine Peiniger zögerten nicht lang und sprinteten hinterher.
“Fuck man, wieso musste das passieren? Ich hätte zum Hostel gehen sollen, man fuck. Fuck, fuck.”
Seine Hirn blendete seine Gedanken aus. Sie waren nicht mehr nützlich. Jetzt war Überleben angesagt. Seine Beine brannten. Er musste weiter. Seine Verfolger waren dicht hinter ihm. Er sah schon das Ausgangstor. Gleich würde er es erreichen und auf der Straße würden sie ihm sicher nichts mehr antun.
Er mobilisierte seine letzte Kraft. Alles tat weh. Er hatte lange keinen Sport gemacht. Er verfluchte sich dafür.
“Scheiß TK-Pizza, man, die fresse ich nie wieder.”
Nur noch ein paar Meter bis zum Tor. Er spürte Erleichterung. Ein Lächeln begann sich zu bilden.
Er machte einen kurzen Schulterblick, um einen letzten Blick auf die Gründe seiner Flucht zu werfen und…
blickte einem von ihnen direkt ins Gesicht.
Bamm! Der Aufprall war so heftig, jegliche Luft entwich seiner Lunge. Der breiteste der drei Typen, der überraschenderweise auch der schnellste von ihnen war, hatte ihn von der Seite gerammt. Er konnte nichts machen, seine Füße rutschten weg und er klatschte komplett, ohne sich abfangen zu können, auf den Boden. Der Angreifer fixierte ihn. Er wehrte sich, doch es hatte keinen Zweck. Er konnte sich nicht entwinden, so sehr er es auch versuchte.
Seine beiden Komplizen kamen nun auch an, sichtlich außer Atem. Sie drehten ihn auf den Bauch, rissen ihm den Rucksack vom Rücken, griffen seine Duffelbag und drehten ihn wieder mit dem Kopf zu ihnen.

Vor lauter Verzweiflung über seine Machtlosigkeit kamen ihm Tränen. Er drückte sie weg. Die Genugtuung wollte er ihnen nicht auch noch geben.

Der Sprecher der drei wandte sich an ihn und presste fremde Worte unter schwerem Atem hervor.
Dann trat er ihm in die Seite.
Er schrie vor Schmerz.
Die anderen beiden lachte. Der Boss der Gruppe spuckte zur Verabschiedung auf ihn. “Fuck you.”
Sein Kumpel löste sich von seinem Opfer und stand auf. Dann verpasste er ihm noch einen Tritt ins Gesicht. Sein Kopf schnellte zur anderen Seite.
Er hörte, wie sich Schritte entfernten und versuchte mit aller Macht bei Bewusstsein zu bleiben.
Doch sein Blick wurde immer unschärfer und das letzte, was er sah, bevor er ins schwarze Nichts hinabsank, war das Ausgangstor in 30 Meter Entfernung.